
Christian Haase MdB. Foto: Tobias Koch (www.tobiaskoch.net)
Am heutigen 3. Oktober 2025 feiern wir 35 Jahre deutsche Einheit – eine weltweit einmalige friedliche Entwicklung von Demokratie und Freiheit, die auch heute nicht selbstverständlich ist. Es war ein langer Weg von den großen Demonstrationen in der DDR im Herbst 1989, der friedlichen Revolution, bis zur offiziellen Unterzeichnung des Einheitsvertrags am 3. Oktober 1990. An dieses 35-jährige Jubiläum erinnern wir uns heute gemeinsam.
Die Zeit seit 1990 war für viele Menschen eine Zeit der Umbrüche, nicht nur im politischen und gesellschaftlichen System in Deutschland, sondern auch im persönlichen Leben. Zwischen dem Revolutions-November 1989 und der Wiedervereinigung im Oktober 1990 verdichteten sich die historischen Ereignisse: Es entwickelten sich demokratische Strukturen wie die runden Tische. Die Menschen in Ost und West diskutierten frei und offen über die verschiedenen Möglichkeiten des Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten mit ihren so unterschiedlichen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systemen.
In demokratischen Wahlen entschied die Bevölkerung über den gemeinsamen weiteren Weg. Dafür waren auch die europäische Ebene und die Abstimmung mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs entscheidend. Seit dem 3. Oktober 1990 ist Deutschland vereint, mit dem Grundgesetz als gemeinsamer Verfassung, einer Währung, einem Sozialstaat, in einem freien Europa umgeben von Freunden. Das Jubiläum erinnert daran, was eine aktive Zivilgesellschaft erreichen kann. Und soll uns mahnen, auch heute unsere Rolle als aktive Mitglieder der Gesellschaft wahrzunehmen. Mitdenken, Mitgestalten und Aufstehen gegen Ungerechtigkeiten oder Antisemitismus – nie war es wichtiger, sich selbst als mündiger Bürger anzusehen und an gebotener Stelle zu handeln!
Heute feiern wir 35 Jahre deutsche Einheit. Ein stolzer Moment. Ein Anlass zur Freude – aber auch zur ehrlichen Selbstreflexion. 35 Jahre ist es her, dass die Mauer fiel, dass Menschen sich in den Armen lagen, dass das geteilte Deutschland wieder zusammenfand. „Wir sind ein Volk!“, riefen sie – mit Hoffnung in den Stimmen und Tränen in den Augen. Und doch stellen wir uns heute, 35 Jahre später, eine Frage, die unbequem klingt, aber notwendig ist: Sind wir ein Deutschland – oder immer noch zwei? Auf dem Papier sind wir längst vereint. Ein Staat. Eine Verfassung. Ein Bundestag. Ein Land. Aber in vielen Herzen, in vielen Köpfen fühlt es sich manchmal immer noch anders an.
Was heißt anfühlen? Ehrlicherweise gilt es festzustellen, dass es auch nach 35 Jahren Unterschiede gibt. Wir sehen sie in wirtschaftlichen Strukturen, bei den Löhnen, bei den Renten, bei der Infrastruktur. Wir spüren es in Statistiken – aber auch in Gesprächen. In Vorurteilen. In gegenseitigen Missverständnissen. Ost und West – das sind Begriffe, die wir nicht nur geografisch verwenden. Sie stehen für Erfahrungen, Prägungen, Biografien. Für Ungleichheiten, für unterschiedliche Erwartungen an Politik, an Leben, an Zukunft.
Die Wahl zum 21. Deutschen Bundestag am 23. Februar 2025 lässt für mich erschreckend die alte Teilung Deutschlands präzise erkennen. Betrachtet man die Wahlergebnisse, wirkt es so, als habe es nie eine Wiedervereinigung gegeben. Die Konturen der ehemaligen DDR leuchten in hellem Blau, während sich die alte BRD im Schwarz der Unionsparteien mit einigen roten Einsprengseln präsentiert. Unter diesem Blickwinkel frage ich mich schon, wo wir heute miteinander stehen in unserem Deutschland? Ja – wir haben viel erreicht. Wir haben Brücken gebaut – wortwörtlich und im übertragenen Sinne. Wir haben Wirtschaftskraft entwickelt, Städte erneuert, Chancen geschaffen.
Wir haben Generationen von Jugendlichen erlebt, für die „Ost“ und „West“ kaum noch eine Rolle spielen – außer im Geschichtsunterricht. Doch gilt der Satz von „Deutschland – einig Vaterland“? Wir müssen verstehen: In den damals als „neue Länder“ bezeichneten fünf Bundesländern änderte sich nach 1990 alles. Und das ist keine Übertreibung. Es änderte sich wirklich alles. Das meiste war besser. Aber es war eben auch anders, neu, riskant. Die Menschen mussten sich komplett umstellen. Für viele war diese Erfahrung traumatisch. Dieses Trauma wirkt in einem Teil der Gesellschaft nach, über Generationen hinweg. Es erzeugt weiterhin Gefühle wie Trotz und Angst.
Ich träume von einem Deutschland, das nicht Ost oder West ist – sondern gemeinsam Zukunft denkt. Und was brauchen wir dafür? Wir brauchen eine neue Kultur des Miteinanders. Wertschätzung statt Klischees. Dialog statt Schuldzuweisungen. Offene Ohren und offene Herzen. Wir brauchen Politik, die hinhört – nicht nur verwaltet. Wir brauchen Medien, die differenzieren – nicht spalten. Und wir brauchen Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht zurückziehen, sondern einbringen. Denn die Einheit lebt nicht von Gesetzen.
Sie lebt von uns. Von unserem Alltag, unserem Miteinander, unserem Willen, Brücken zu bauen, wo Gräben geblieben sind. Nach 35 Jahren können wir sagen: Wir haben viel geschafft. Und der heutige Tag der Deutschen Einheit ist eine Gelegenheit, die erreichten Fortschritte aus 35 Jahren zu feiern und gleichzeitig die verbleibenden Herausforderungen anzugehen. Es geht darum, die Vergangenheit zu reflektieren, die Gegenwart zu gestalten und eine gemeinsame Zukunft zu schaffen.
Pressemeldung: Christian Haase MdB