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Mobilitätsjubiläum: Ein Jahr Deutschlandticket – Großer Wurf mit Nebenwirkungen?

von | Apr 22, 2024 | Kunterbunt

Foto: WestfalenTarif GmbH.

Am 1. Mai 2024 ist es so weit. Dann jährt sich die Einführung des Deutschlandtickets. Als Tarifrevolution und beispiellose Initiative zur Vereinheitlichung des ÖPNV gefeiert, befriedigt es die Bedürfnisse zahlreicher Kunden nach einem zeitgemäßen, deutschlandweiten Reisen mit Bus und Bahn zur günstigen Monatsflatrate. Der politische Traum eines Europatickets schien schon greifbar nah. Doch Frankreich entschied u. a. aufgrund der schwierigen Themen Finanzierung und Organisation gegen eine Umsetzung. In Österreich und der Schweiz integrierte man zusätzlich den Fernverkehr in vergleichbare Konzepte.

 

Klar ist: Sollen die Klimaschutzziele Deutschlands wie die Treibhausneutralität bis 2045 auch nur annähernd erreicht werden, muss nach der Devise „think big“ gedacht und entsprechend aktiv gehandelt werden. Zum Gelingen der Verkehrswende, die eine der wichtigen Stellschrauben zur Klimarettung darstellt, ist neben einem preisgünstigen übergreifenden Ticket aber mehr nötig: im Verkehrssektor insbesondere die Stärkung und der Ausbau des ÖPNV. Dafür unumgänglich: Angebotsverdichtung, Takterhöhung, Infrastrukturausbau, intelligente Organisation und langfristige Finanzierungssicherung des Nahverkehrs bei gleichzeitiger Effizienzsteigerung.

 

Angesichts des massiven Rückgangs der Fahrgeldeinnahmen durch das Deutschlandticket – im WestfalenTarif beläuft sich der Einnahmenverlust auf rund ein Drittel – braucht es zuverlässig abgesicherte Ausgleichszahlungen über 2025 hinaus. Soll der entschiedene Wille zu einem Modal Shift deutlich zum Ausdruck kommen, sind darüber hinaus gezielte Investitionsprogramme zugunsten des Rad-, Bus-, Bahnverkehrs und des Carsharings erforderlich. Der ÖPNV und die übrigen umweltfreundlichen Verkehrsträger sind dabei aber nicht nur Subventionsempfänger, das ergab die jüngste Studie im Auftrag des Bündnisses für nachhaltige Mobilitätswirtschaft. Vielmehr erzeugen sie eine Wertschöpfung von 117,6 Milliarden Euro. Jeder Euro, den Unternehmen der nachhaltigen Mobilität erwirtschaften, ist mit einer zusätzlichen Wertschöpfung von 2,40 Euro verbunden. 1,7 Millionen Arbeitsplätze gehen auf sie zurück.

 

Bei der Ticket-Bilanzierung ist neben dem Blick von ganz oben auch der auf die Regionen wichtig. Was bringt das Deutschlandticket im WestfalenTarif? Mobil zu sein, ohne sich Gedanken über Tarifgrenzen oder die richtige Ticketauswahl machen zu müssen, wird auch von den westfälischen Nutzerinnen und Nutzer geschätzt. Allerdings sind nur knapp 9 % der D-Ticket-Inhaber in Westfalen “echte” Neukunden. Lediglich ein kleiner Anteil steigt also wirklich neu in den ÖPNV ein und entscheidet sich gegen das Auto. Die Schwächen im ÖPNV-Angebot lassen einen häufigeren Ticketerwerb unattraktiv erscheinen. Wo kein entsprechendes Verkehrsangebot herrscht, lohnt sich ein Deutschlandticket-Erwerb auch nicht.

 

Auch die aktuellen bundesweiten Zahlen des VDV-Jahresberichts belegen: 82 % der in kleinstädtischen, dörflichen Gebieten lebenden Menschen besitzen kein D-Ticket. Selbst diejenigen, die sich dafür entschieden haben, kündigen es wesentlich häufiger, verglichen mit denen, die in größeren Städten und Ballungsräumen wohnen. Von den aktuellen ÖPNV-Nutzern, die kein Deutschlandticket besitzen, finden daher auch 57 %, dass das Ticket kein guter Grund ist, das Auto stehen zu lassen.

 

Rund 40 % der in der VDV-Jahresbilanz Befragten stehen dem ÖPNV-Angebot auch nach einem Jahr Deutschlandticket gleichgültig gegenüber: Sie wollen weiter mit dem Auto fahren. Das ist in Regionen, in denen – topographisch oder siedlungsstrukturell begründet – das Auto nach wie vor fast unentbehrlich ist, nicht verwunderlich. Hier wie auch für finanziell weniger gut aufgestellte Bundesländer gilt besonders: Nur wenn Bund und Länder die Einnahmenverluste der Verkehrsunternehmen aus dem Verkauf des Deutschlandtickets weiterfinanzieren oder trotz der Bundes- und Landtagswahlen 2025/2026 den politischen Mut aufbringen, den Ticketpreis anzuheben, kann die Zukunft des Deutschlandtickets als gesichert gelten.

 

Kürzungen im ÖPNV-Angebot, um ein günstiges Ticket weiter zu finanzieren, sind dagegen kein sinnvoller Lösungsansatz. Das Worst Case-Szenario – ein Flickenteppich aus Regionen, die das Deutschlandticket fortführen, und solchen, die sich das nicht leisten können – gilt es zu vermeiden.
Den rechtlichen Rahmen bezüglich Art und Umfang einer öffentlichen Finanzierung von Gemeinwohlverpflichtungen im ÖPNV stellte der Europäische Gerichtshof (EuGH) noch einmal mit seinem Urteil vom 25. Januar 2024 klar: Im Verfahren Obshtina Pomorie begrenzte er den Handlungsspielraum für die zuständigen Behörden, den Ausgleich der Verkehrsunternehmen für die Erbringung von Verkehrsleistungen im Gemeinwohlinteresse nach den zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln zu bemessen.

 

Das bedeutet: Nur weil kein Geld im Staatshaushalt ist, dürfen Verkehrsunternehmen nicht auf den Kosten der beauftragten Verkehrsleistungen sitzen bleiben. Dieser Richterspruch dürfte auch für das Deutschlandticket gelten. Demnach müssen Bund und Länder den Einnahmenausfall der Verkehrsunternehmen für die staatlich gewollte Tarifabsenkung auf derzeit monatlich 49 Euro für das Deutschlandticket kompensieren: Ein Defizitausgleich nach Kassenlage ist dem Richterspruch zufolge also ausgeschlossen.

 

Sicher lässt sich ein Teil der entstehenden Einnahmenverluste der Verkehrsunternehmen auch durch eine verstärkte Neukundengewinnung generieren. Doch auch hier spricht die bundesweite Auswertung des VDV eine beredte Sprache. Denn anhand der vorliegenden Zahlen stellt der Verband fest: Je höher die ÖPNV-Zufriedenheit, desto höher die Deutschlandticket-Besitzquote. Das bedeutet: Je besser das ÖPNV-Angebot, desto mehr Neukunden gibt es. Auch mehr Schubkraft durch ein gezieltes bundes- und länderweites Marketing würde der notwendigen weiteren Verbreitung des Deutschlandtickets zuträglich sein.

 

Beschränkt sich der Fokus des Deutschlandtickets weiterhin in erster Linie auf die heutigen Bestandskunden, wird es keinen erheblich gesteigerten Absatz geben. Gelegenheitsfahrer nutzen das Ticket nur ab und an für Freizeitaktivitäten mit der Folge saisonaler Schwankungen. Zusätzliche Anreize wie das Deutschlandticket für Berufspendler bieten einen Ausgleich. Während das Deutschlandticket Schule und das Deutschlandsemesterticket eine weite Verbreitung im WestfalenTarif gefunden haben, besteht in einigen Regionen im Rahmen des Jobtickets noch Spielraum nach oben.

 

Bei Alternativangeboten zum Dienstwagen gilt dies ebenso. Mit einem Mobilitätsbudget, so das Bündnis für nachhaltige Mobilitätswirtschaft, könnten Arbeitnehmende ihre bevorzugten nachhaltigen Fortbewegungsmittel frei zusammenstellen und z. B. Bike- und Carsharing-Angebote einbeziehen. Auch wirtschaftlich betrachtet würden Investitionen in den gezielten Ausbau solcher multimodal gedachten Mobilitätskonzepte Deutschland weiter fit machen für die Zukunft. Denn der dahinterstehende Verkehrssektor liefert nicht nur einen entscheidenden Beitrag zur Emissionsreduktion und Ressourcenschonung. Er erzielt vielmehr auch einen großen volkswirtschaftlichen Nutzen. Das gilt sowohl für die Wertschöpfung als auch hinsichtlich der Beschäftigungs- und Einkommenseffekte.

 

Das Deutschlandticket ist ohne jede Frage ein wichtiger Beitrag zur Förderung der ÖPNV-Nutzung. Doch es ist kein Allheilmittel für den Patienten Klima: Die alleinige Gabe dieses Medikaments verhilft ihm nicht in dem Maße zur Genesung wie erforderlich. Das zeigt auch der Blick auf das Fahrgastaufkommen insgesamt: Es bleibt im ÖPNV, so die aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts, knapp acht Prozent unter dem Vor-Corona-Niveau.

 

 

Die Fahrpreisabsenkung als Anreiz für einen Umstieg vom motorisierten Individual- in den öffentlichen Verkehr ist nur mit einer entsprechenden Begleitmedikation – verlässliche langfristige Finanzierung, Infrastrukturausbau/-modernisierung, multimodale Vernetzung, intelligente Förderung von Ballungs- und ländlichen Räumen – wirksam. Gute Medikamente müssen eben auch verträglich sein. In diesem Fall nicht nur für den Patienten Klima, sondern für alle, die von ihm betroffen sind.

 

WestfalenTarif. Der Eine für Bus & Bahn.
Der WestfalenTarif ist der flächenmäßig größte Nahverkehrstarif in NRW und der zweitgrößte deutsche Gemeinschaftstarif. Ein komfortables ÖPNV-Angebot mit Zukunftscharakter in Westfalen, ein Ticket für alle, auf der Schiene und der Straße, und hohe Mobilität für die lokalen Bedürfnisse vor Ort. Das verwirklichen 28 Aufgabenträger, über 60 Verkehrsunternehmen und die Fachexpert*innen der WestfalenTarif GmbH in gemeinschaftlicher Zusammenarbeit in den 16 angeschlossenen Kreisen und 3 kreisfreien Städten. Verbundweite Tarifplanung, Einnahmenaufteilung, Vertrieb, Marketing, Controlling und eine transparente Kundenkommunikation bilden dabei die Basis, auf der leicht verständliche, barrierefrei zugängliche, klimafreundliche, digitale und intermodale Konzepte entwickelt werden.

 

Pressemeldung:  WestfalenTarif GmbH.

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